Der Gelähmte an der „Schönen Pforte“

In der Apostelgeschichte wird eine erstaunliche Begebenheit berichtet:

Apg 3, 1-9
1 Petrus aber und Johannes gingen um die Stunde des Gebets, die neunte, zusammen hinauf in den Tempel. 2 Und ein Mann, der von seiner Mutter Leibe an lahm war, wurde herbeigetragen; man setzte ihn täglich an die Pforte des Tempels, die man die schöne nennt, damit er Almosen erbat von denen, die in den Tempel gingen. 3 Als dieser Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel eintreten wollten, bat er, dass er ein Almosen empfinge. 4 Petrus aber mit Johannes blickte fest auf ihn hin und sprach: Sieh uns an! 5 Er aber gab acht auf sie, in der Erwartung, etwas von ihnen zu empfangen. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold besitze ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers: Geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sofort aber wurden seine Füße und seine Knöchel stark, 8 er sprang auf, konnte stehen und ging umher. Und er trat mit ihnen in den Tempel, ging umher und sprang und lobte Gott. 9 Und das ganze Volk sah ihn umhergehen und Gott loben;

Es ist ein Heilungsbericht!
Ein fantastisch beeindruckender Heilungsbericht.
Der nur danach schreit, mit epischer Musik von Hollywood verfilmt zu werden!

Denn der Geheilte – ehemals gelähmte Mann – kann nicht nur gehen, sondern sogar springen!
Und er läßt es sich nicht nehmen, im heiligen Jerusalemer Tempel (!) umherzuspringen und mit lauter Stimme Gott zu loben!
Er veranstaltet einen richtigen Radau!

Ein gewaltiges beeindruckendes Ereignis, das für einen wunderbaren Gott spricht.
Ein Gott, der nicht nur heilt, sondern dies sogar durch fehlbare Menschen wie Petrus und Johannes tut (, die beide auch schon negativ in den Evangelien aufgefallen sind: Mat 16,23 ; Luk 9,55 )!

Jetzt das Erstaunliche (Achtung festhalten!):
Einige Christen sehen dieses Ereignis als Beweis an, dafür, daß Jesus absichtlich an einem Kranken vorbeigegangen sei, und ihn absichtlich nicht geheilt hat.

What? How?

Die Argumentation verläuft ungefähr so:

In der Apostelgeschichte steht, daß der Gelähmte jeden Tag dort saß. (Apg 3,2)
Jesus war 3 Jahre öffentlich wirksam, also ist er an ca 1062 Tagen, ca. 2124 mal an diesem Mann vorbeigegangen. Und jedesmal, ohne ihn zu heilen!

Also wollte Jesus diesen Mann nicht heilen!
Wahrscheinlich ist diese Krankheit also mit Gottes Willen, vielleicht sogar durch Gottes Willen, entstanden!

Obwohl ich von solch einfachen Rechnungen begeistert bin, sind hier doch einige ungenannte Voraussetzungen eingeflossen, bei denen wir uns nicht wirklich sicher sein können:

  1. Annahme: Jesus ist während seiner öffentlichen Wirksamkeit jeden Tag in den Jerusalemer Tempel gegangen.
  2. Annahme: Der Gelähmte wurde wirklich jeden einzelnen Tag des Jahres während der oben erwähnten drei Jahre an seinen Platz getragen.
  3. Annahme: Der Gelähmte saß im Tempelbezirk so zentral, daß Jesus, auch wenn er von Menschen umgeben war, direkt an ihm vorbeigehen musste!
  4. Annahme: Der Gelähmte wollte unbedingt von Jesus geheilt werden, und hat lautstark auf sich aufmerksam gemacht, so daß Jesus auf ihn reagieren musste!
    (Dieser andere Kranke, der blinde Bartimäus, musst richtig rumschreien, um auf sich aufmerksam zu machen! s. Mk 10,47)

Zur 1. Annahme:
Diese Annahme ist erkennbar falsch!
Jesus war als Erwachsener vermutlich nur dreimal in Jerusalem. Wenn ich hier pauschal (und völlig unbegründbar) von jeweils 7 Tagen ausgehe, komme ich auf insgesamt 21 Tage, bei denen Jesus die Chance hatte, in den Tempel zu gehen.

Zur 2. Annahme:
Ich finde das unwahrscheinlich.
Es ist nicht unmöglich, aber hatte der Gelähmte wirklich die perfekt verlässlichen Freunde und Verwandten, die ihn wirklich
JEDEN (!)
EINZELNEN (!)
TAG (!)
ohne irgendeinen Ausfall zu seinem „Arbeitsplatz“ brachten?
Wirklich?!
(Die perfekte Anwesenheit, von der mancher Arbeitgeber heute träumt.)

Und der Gelähmte war nie krank oder unpäßlich?!
Sozusagen ein Gelähmter mit unzerstörbarer Gesundheit! (Gemein. Sorry!)

Würde denn der Text anders lauten, wenn der Gelähmte nicht seit drei Jahren täglich vor die schöne Pforte gesetzt wurde, sondern erst seit einem Monat?

Nein.

Dann können wir also sagen, daß der Gelähmte möglicherweise Jesus niemals begegnet ist! (Denn seit der Kreuzigung waren mindestens 50 Tage vergangen.)

TempelSchönePforte

Zur 3. Annahme:
Ich habe davon gehört, daß unter Straßensängern manche Plätze heiss umkämpft werden. Sie liegen zentral, sind gut besucht und die Akustik ist gut.
Vermutlich gibt es ähnliche Konkurrenz bei Bettlern.
Kann ein Bettler seinen perfekten Platz drei Jahre lang halten und verteidigen?
In einer großen Stadt?
Wo es vielleicht noch einen Bettler gab?
Und vielleicht noch einen?
Also insgesamt: 3 Bettler?
Oder eher: n + 3, n ∈ ℕ?

Vielleicht.
Mit den richtigen Verbündeten?
Mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit?

Nagut.
Vielleicht.

Zur 4. Annahme:
Dieser Bettler glaubt nicht an Heilung, denn er verlangt anscheinend nicht danach.
Und anscheinend kennt er auch weder Johannes noch Petrus, die ziemlich wahrscheinlich immer in Jesu Nähe waren.
Er schaut die beiden an, und erwartet anscheinend eine finanzielle Zuwendung. Wenigstens ist sein Bedürfnis so augenscheinlich, daß sich Petrus zu einer Verteidigung gezwungen sieht: „Silber und Gold habe ich nicht!“
Auch hat Petrus offensichtlich kein Problem, für diesen Mann zu beten.
(Obwohl sich Jesus 3 Jahre geweigert haben soll, ihn zu heilen? Sollte das Petrus und Johannes nicht vorsichtig machen?
Die zwei tun gerade so, als dürften sie jeden heilen!)

Das sind für mich die Gründe, warum ich nicht davon ausgehe, daß Jesus absichtlich an dem Gelähmten vorbeigegangen ist.

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